"Das kleine Mädchen"

Es war einmal

ein kleines Mädchen. Es hatte nichts weiter zu essen, als noch ein winziges Stückchen Wurst.

Da sagte es zu sich: „Wenn ich mir die Wurst gut in vier Teile breche, dann habe ich morgen noch einen ganzen Tag lang zu essen. –

Ich werde morgens ein Stückchen kauen, dann mittags, dann nachmittags und abends habe ich auch noch ein Stückchen übrig, um nicht zu verhungern.

Vielleicht finde ich ja sonst noch etwas Essbares, wie Beeren oder Pilze, oder ein Hühnchen legt ein Ei für mich, das ich dann kochen kann.“

Obwohl es nicht satt war, legte es sich mit diesen Gedanken zufrieden in sein Bettchen. Sein Magen knurrte jedoch so lange, bis er selbst darüber eingeschlafen war.

Früh morgens schon streichelte die Sonne mit ihren warmen Strahlen die blassen Wangen des kleinen Mädchens.

Da wachte es langsam auf: „Danke, liebe Sonne, dass Du mich geweckt hast. Aber meinst Du nicht, Du hättest mich lieber noch etwas schlafen lassen können? Hast Du nicht gewusst, dass ich kaum noch etwas zu essen habe? Ach, wenn ich noch schlafen würde, hätte ich nicht solchen großen Hunger. Höre doch mal, wie mein Magen schon knurrt… Ach verzeih mir, liebe Sonne, ich will nicht undankbar sein.“

Die Sonne lächelte auf das kleine Mädchen hinab und wärmte es mit ihren Strahlen, damit es nicht fror.

Als das kleine Mädchen von den Sonnenstrahlen warm geworden war, fiel ihm wieder ein, dass es ja sein winziges Stückchen Wurst in 4 Teile brechen wollte, damit es an diesem Tage noch nicht verhungern musste.

Es brach die Wurst in 4 Teile. Das kleine Mädchen legte die winzigen Teile auf den Tisch neben seinem Bettchen. Da lagen sie nun im hellen Licht der Sonnenstrahlen. Plötzlich fiel dem Kind auf, dass die Wurstteilchen gar nicht gleich groß waren. Deshalb überlegte es, welches Teilchen es denn nun als erstes kauen sollte. Sollte es gleich das größte Stückchen in den Mund nehmen, oder sollte es lieber eines der anderen Teilchen zuerst nehmen?

Da kam es zu der Überlegung, das größte Stückchen für den Abend zu lassen, damit der Magen nicht wieder in der Nacht so lange knurren sollte.

Genau, so würde sie es tun. Die Kleine steckte das kleinste Stückchen Wurst in ihren Mund und kaute so lange darauf herum, dass nichts mehr übrig blieb.

Mittags tat sie es ebenso mit dem nächsten Stückchen und nachmittags mit dem anderen. Stets achtete das kleine Mädchen sorgsam darauf, das größere Stückchen für den Abend übrig zu lassen.

Als der Abend gekommen war, hatte das kleine Mädchen keine Beeren gefunden, auch keine Pilze. Und kein Hühnchen hatte ihm ein Ei gelegt, das es für sich hätte kochen können. Da war es doch froh, dass es sich das größte Stückchen von der winzigen Wurst für den Abend aufgehoben hatte.

Die Kleine ging zu dem Tischlein neben ihrem Bettchen und wollte nun das restliche Stückchen Wurst für den Abend kauen. Aber so sehr es über den Tisch griff, es lag keine Wurst mehr darauf.

Da weinte das kleine Mädchen vor lauter Angst, dass es nun verhungern müsste. Es legte sich in sein Strohbettchen und weinte und weinte. Es weinte so viel, dass das Stroh unter seinem Köpfchen ganz nass und weich wurde. Und die Tränen rannen durch das Stroh bis hinunter auf den Boden, auf dem ein kleines Mäuschen mit seiner Familie wohnte.

Erschrocken wachten die Mäuse auf und wunderten sich, dass plötzlich alles so nass war. Puh, war das ungemütlich. Der Mäusevater Fax schüttelte sich, da musste er doch erst mal nach dem Rechten sehen.

Die Mäusemutter Husch wischte erstmal den Boden auf. Aber sie wurde erst mit Wischen fertig, als das kleine Mädchen endlich eingeschlafen war, dass auch die Äuglein zu müde waren um noch Tränen laufen  zu lassen. Dann kletterte sie nach oben auf das Bettchen des kleinen Mädchens, um zu sehen, was passiert sei.

Die Mäusemutter Husch konnte das kleine Mädchen gut leiden. „Das arme Kind“, dachte sie, „das arme Kind, es ist so lieb und doch hat es keine Eltern, niemanden, der für es sorgt; und niemand, der auf das Kind aufpasst. Ach, da haben es ja unsere Kinder viel besser….

Ich will Fax mal sagen, dass wir für die Kleine auch sorgen wollen.“

Die Mäusemutter Husch kletterte wieder nach unten in ihren Mäusebau direkt unter dem Bettchen des kleinen Mädchens. Fax, der Mäusevater, war auch wieder zurück. Ihm war nichts sonderlich aufgefallen… Mama Husch hatte ja alles soweit trocken bekommen. Er legte sich also gemütlich auf seinen Ruheplatz zurück.

Als Mama Husch wieder unten angekommen war, begann sie sogleich:

„Hör mal, Fax. Ich weiß ja nicht, was war. Aber es muss etwas schreckliches passiert sein. Das kleine Mädchen über uns darf nicht noch einmal so viel weinen, wie heute.

Es ist nun eingeschlafen. Aber wir beide, Du und ich, werden ab heute für das Kind sorgen, als wäre es unser Kind. Du weißt ja auch, dass es ganz allein ist und dass sich niemand um es kümmert. Bist Du damit einverstanden, Fax?“

„Oh weia…!“ sagte Fax, „jetzt verstehe ich alles…!“ Mäusevater Fax kratzte sich bedenklich am Kopf.

Schließlich bekam er rote Ohren und gestand seiner Frau, dass er dem kleinen Mädchen das einzige Wurststück vom Tischlein neben dem Bettchen weggeschleppt hätte. Er hätte es in die Mäusevorratskammer getragen und ordentlich zugedeckt, weil er ja für den Wintervorrat zu sorgen hatte.

„Ach Fax, dann ist es ja gut. Achte gut darauf. Und ab morgen früh legen wir dem Kind immer etwas Essbares auf den Tisch. Niemals mehr nehmen wir ihm etwas weg, damit es nicht verhungert.“

So kam es, dass das kleine Mädchen, wenn es zärtlich von der Sonne geweckt worden war, immer etwas zu essen auf seinem Tischlein neben seinem Bettchen fand. Es brauchte nur noch zum Brünnlein gehen, um frisches Wasser dazu zu trinken.

Wenn es dann zurückkam, brachte es für die kleinen Mäuse auch immer ein Schälchen von dem leckeren frischen Brunnenwasser mit.

Das kleine Mädchen und die kleinen Mäuse waren alle zu richtigen Freunden geworden, die füreinander da waren.

Seit dieser Zeit haben die kleinen Mäuse vor Freude glänzende Äuglein, die man sogar im Dunkeln leuchten sieht.

© baeredel


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"Die kleine Träne" Bleistiftzeichnung by Baeredel